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Verdi annullieren

STEFANO BIANCHETTI/CORBIS VIA GETTY IMAGES

Verdi annullieren

Sollte klassische Musik „entkolonialisiert“ werden?

Die „Cancel Culture” (Lösch- oder Zensurkultur) ist real. Bedeutende Persönlichkeiten der Geschichte – Theodore Roosevelt, Königin Victoria und sogar Gandhi – ihre Statuen wurden entweder abgerissen oder es wurde dazu aufgerufen, sie abzureißen. Man sollte meinen, dass ein wesentlicher Bereich des westlichen historischen Erbes sicherer wäre: die klassische Musik, die seit Hunderten von Jahren das Leben der Menschen in allen Kulturen der Welt bereichert. Aber auch die klassische Musik ist nicht immun.

Die Universität Cambridge bietet einen Kurs über klassische Musikgeschichte an: Die Entkolonialisierung des Gehörs. Der Kurs lehrt, wie man Musik auf eine „postkoloniale“ Weise hört. Er geht davon aus, dass klassische Musik „an Projekten des Imperiums und neoliberaler Machtsysteme mitschuldig“ sein könnte (Telegraph, 7. Mai). In den Kursunterlagen wird unter anderem dargelegt, wie „Genres wie z.B. die Opern besonders anfällig für rassifizierte Darstellungen“ sind. Das Unterrichtsmaterial schlägt Giuseppe Verdis Oper Aida als „Ausgangspunkt“ vor. Aida, die 1871 uraufgeführt wurde, ist eine romantische Oper, die im alten Ägypten spielt.

Nach den Black-Lives-Matter-Krawallen von 2020 hat das britische Klassik-Establishment nach Wegen gesucht, um „inklusiver“ zu werden. Das Royal College of Music kündigte an, sein klassisches Curriculum zu „diversifizieren“. Im März 2021 erhielt der Telegraph Zugang zu Dokumenten der Universität Oxford, in denen Änderungen am Musiklehrplan der Schule gefordert werden. „Professoren sagten, das klassische Repertoire, das in Oxford gelehrt wird und Werke von Mozart und Beethoven umfasst, konzentriere sich zu sehr auf ‚weiße europäische Musik aus der Sklavenzeit’“, schrieb der Telegraph. Ein Mitglied der Oxford-Fakultät sagte sogar, das musikalische Notenschrift-System repräsentiere „weiße Hegemonie“.

Eines der Hauptanliegen der blm ist es, den Menschen afrikanischer Abstammung „Gerechtigkeit“ zu verschaffen. Ihre Hauptangriffe sind der transatlantische Sklavenhandel und die europäischen Kolonialmächte. Teil der blm-Vorstellung von „Gerechtigkeit“ ist es, das historische Erbe und die Erinnerung des Westens anzugreifen. Zunächst hatten es die blm-Aktivisten auf Persönlichkeiten wie den konföderierten General Robert E. Lee abgesehen, dann auf amerikanische Präsidenten, die mit der Sklaverei in Verbindung gebracht wurden. Und der Geltungsbereich hat sich ausgeweitet. Jetzt wird alles, was mit dem westlichen Kulturerbe verbunden ist, als Freiwild betrachtet.

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Aber bedenken Sie: Viele der berühmtesten Komponisten hatten nichts mit dem transatlantischen Sklavenhandel oder der Kolonialisierung Afrikas zu tun. Ebenso wenig wie ihre Heimatländer. Österreich – die Heimat von Franz Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert und anderen – hatte nie eine Kolonie in Afrika. Ebenso wenig (abgesehen von einer seltsamen Episode im Jahr 1889) Russland – das Land von Sergej Prokofjew und Pjotr Iljitsch Tschaikowski. George Gershwin, Felix Mendelssohn und andere waren Juden – eine Rasse, die weitaus länger verfolgt wurde als die Kolonialafrikaner.

„Künstlerisches Schaffen, das mehrere Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte überdauert, beurteilt das Schaffen von heute“, kommentierte Ryan Malone, Komponist und Programmdirektor der Armstrong International Cultural Foundation. „Ich bringe meinen Studenten bei, dass nicht wir über diese Musik urteilen, sondern sie urteilt über uns. Es gibt sie schon viel länger als uns, und es ist eine unverschämte Arroganz zu glauben, wir könnten ihren Einfluss auf die menschliche Zivilisation mit unserer extrem kurzen Zeitspanne auf der Zeitachse der Menschheit abtun.

Aida, die Oper, die bei der Entkolonialisierung des Gehörs als „Ausgangspunkt“ dient, ist eine ausgezeichnete Fallstudie. Aida wurde nicht in Mailand, Wien oder Paris uraufgeführt, sondern in Kairo. Das Kairoer Khedivial-Opernhaus wurde von Ägyptens Herrscher Ismai’il Pascha in Auftrag gegeben. Verdi soll wütend darüber gewesen sein, dass mehr von dem Durchschnittspublikum – das ägyptische Publikum eingeladen wurden. In der Handlung selbst geht es um einen ägyptischen Krieger, der für die Befreiung äthiopischer Sklaven kämpft. Bei der Uraufführung schrieb ein Kritiker: „Die Liebe zwischen Aida [einer äthiopischen Sklavin] und Radames [dem ägyptischen Krieger] wird zu einem leuchtenden Beispiel wahrer Hingabe, die letztlich die großen kulturellen Unterschiede zwischen ihren verfeindeten Nationen überwindet.“ Klingt das nach einer rassistischen Inszenierung?

Verdi hatte, wie die Aktivisten von heute, starke politische Überzeugungen. Eine andere seiner berühmten Opern, Nabucco (die im antiken Irak spielt), symbolisierte die politischen Kämpfe Italiens. Malone sagte, dass Verdis „Name zu einem Akronym für den Kampf seines Volkes um Freiheit von Unterdrückung und Nationalität wurde“. Das sind universelle Themen, von denen man meinen könnte, dass sie jeder verstehen kann.

Alles, was der Mensch anfasst, spiegelt im Allgemeinen Vorurteile und Voreingenommenheit wider. Aber die Künste sind dafür gedacht, dass jeder sie genießen kann, unabhängig von Rasse, Religion oder wirtschaftlichem Hintergrund. Musik ist einer der großen Vereiniger der Menschheit. Sie sollte vereinen, nicht trennen.

„Klang ist Klang“, sagte Malone. „Die Schwingungen der Moleküle – die das ausmachen, was unsere bloßen Ohren als Tonhöhe und Klangfarbe wahrnehmen – sind wissenschaftlich messbar, und sie übersteigen jede Kultur. Der ‚Dur-Dreiklang’ [einer der häufigsten Akkorde in der Musik] findet sich in den weitgehend unhörbaren Obertönen jeder Tonlage. Das ist künstlerisch, nicht kulturell. Sicher, jede Kultur macht sich musikalische Elemente anders zunutze, und der Austausch solcher Manifestationen der ‚Physik der Musik’ ist eine der Freuden der menschlichen Erfahrung – keine ‚Aneignung’, vor der man zurückschrecken muss. ...

„Große Kunst sollte unser Leben ‚kolonisieren’ und ‚imperialisieren’ in dem Sinne, dass sie grundlegend menschlich ist. Gerade Musik ist in vielerlei Hinsicht eine universelle Sprache – das heißt, sie erhebt sich über unsere Kulturen und ethnischen Hintergründe und bereichert unser Leben. So wie ein Pfeiler ein Bauwerk stützt – ganz gleich, welche künstlerischen, politischen, kulturellen Verbindungen mit diesem Pfeiler verbunden sind.“

Klassische Musik ist eine Kunstform, die es wert ist, bewahrt, geschützt und genossen zu werden, ganz gleich, wer man ist oder woher man kommt.

Wie fängt man an, sie zu lernen und zu schätzen? Für diejenigen, die nicht mit klassischer Musik aufgewachsen sind, kann es einige Zeit dauern, bis sie einen Geschmack dafür entwickeln. Die Website Trumpet sponsert einen von Ryan Malone moderierten Podcast namens Music for Life. In der Sendung werden Musikprogramme vorgestellt, die von der Armstrong International Cultural Foundation organisiert werden. Darunter befinden sich seit Jahren so renommierte Künstler wie Joshua Bell, das Russische Nationalballett und die Wiener Sängerknaben. Music for Life ist ein guter Anfangspunkt, um Ihren eigenen klassischen Musikgeschmack zu entwickeln. Fangen Sie noch heute an zu hören!

POSAUNE KURZMITTEILUNG

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