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Ein radikales Umdenken in der deutschen Politik

JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

Ein radikales Umdenken in der deutschen Politik

In den letzten Jahren erlebt Deutschland einen radikalen Wandel. Die Sicht auf das Militär ist nicht mehr dieselbe.

Im Mai 2010 sagte Bundespräsident Horst Köhler, dass „[...] ein Land unserer Größe [...] wissen muss, dass [...] auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern“ . Zu diesem Zeitpunkt war der Gedanke, dass Deutschland sein Militär einsetzen würde, um seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen, so umstritten, dass Köhler sich zum Rücktritt gezwungen sah.

Nur sechs Jahre später ist es offizielle deutsche Regierungspolitik, die Armee einzusetzen, um deutsche Interessen im Ausland zu verteidigen, und es gibt keinen Aufschrei mehr. Das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr , veröffentlicht am 13. Juli, zeigt, wie dramatisch sich die Haltung der Nation zum Militär verändert hat. Das Weißbuch führt „zur Abwehr sicherheitspolitischer Bedrohungen für [...] unsere freien und sicheren Welthandels- und Versorgungswege beizutragen“ als Teil des Auftrages der Bundeswehr auf, das ist fast dieselbe Aussage, die vor sechs Jahren zum Rücktritt des Präsidenten geführt hatte. Das Weißbuch ist voller solcher Aufrufe.

Dieses Weißbuch ist die jüngste einer Reihe bedeutsamer Aussagen eines Deutschlands mit frischem Selbstbewusstsein.

„Dies ist die Zeit eines neuen Deutschlands“, sagt Jan Techau, Direktor des Carnegie Europa Think Tank, und reagiert damit auf einen durchgesickerten Entwurf des Papiers. „Das ist wahrscheinlich das erste Mal, dass ein deutsches Weißbuch zur Sicherheitspolitik bedeutsam ist.“

„Das Weißbuch 2016 markiert eine große Veränderung für das Land“, schreibt die Deutsche Welle am 13. Juli.

Das Papier beschreibt den ernsten Zustand der Welt. „Deutschland ist in neuer Qualität gefordert“, heißt es darin. „Die internationale Ordnung, wie sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde [...], ist im Umbruch.“

„Die Renaissance klassischer Machtpolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel zur Verfolgung nationaler Interessen vorsieht und mit erheblichen Rüstungsanstrengungen einhergeht, erhöht die Gefahr gewaltsamer zwischenstaatlicher Konflikte – auch in Europa und seiner Nachbarschaft [...]“, heißt es.

In diesem Umfeld gewöhnt sich Berlin nun an den Gedanken, dass Deutschland seine Macht aktiv einzusetzen beginnen muss.

„Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen [...]“, schreibt Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Weißbuches. „Deutschland beweist in den aktuellen Krisen, dass es zu seiner sicherheitspolitischen Verantwortung steht“, schreibt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. „Und auch, dass wir bereit sind zu führen.“

„Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen“, erklärt das Weißbuch. Es wiederholt auch Deutschlands Anliegen, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu erhalten, eine Anspielung auf die Bedeutung der Rolle, die Deutschland sich spielen sieht.

Um diese Rolle zu übernehmen, muss Deutschland mehr für sein Militär ausgeben. Das Papier fordert Deutschland auf, seine jährlichen Militärausgaben von € 36 Milliarden auf € 60 Milliarden (US$ 40 Milliarden auf US$ 66 Milliarden) zu erhöhen. Natürlich ist es viel einfacher, zusätzliche Ausgaben zu fordern, als tatsächlich mehr Geld auszugeben, aber Deutschlands Verteidigungshaushalt steigt bereits jetzt zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges.

Das Papier fordert auch, die die Anzahl der Soldaten einschränkende Obergrenze aufzuheben, und stellt hierzu fest, „die Bundeswehr [müsse] in der Lage sein, Landes- und Bündnisverteidigung sowie Einsätze zum internationalen Krisenmanagement personell schnell, robust und durchhaltefähig erfüllen zu können“.

Das Weißbuch erwähnt zudem, dass die Armee künftig aktiver werde. Das Militär werde die Vereinten Nationen unterstützen, indem „das deutsche Engagement, unter anderem durch Stärkung materieller und personeller Beiträge zu und Übernahme von Führungsverantwortung in VN-Missionen (zivil, polizeilich, militärisch) und im VN-Sekretariat, ausgebaut wird“. Außerdem heißt es, dass das deutsche Militär bereit sei, im Ausland „militärische Mittel im gesamten Aufgaben- und Intensitätsspektrum von Beobachtermissionen über humanitäre Einsätze bis zur robusten Friedenserzwingung [vorzuhalten]“ (Hervorhebung, auch im Weiteren, eingefügt).

Das Papier betont die Notwendigkeit einer „Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft“. „Sicherheitsvorsorge ist nicht nur eine staatliche, sondern wird immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft“, heißt es. Er stellt außerdem fest, dass deutsche Soldaten „für ihren fordernden Auftrag neben der rationalen Sinnstiftung auch eine emotionale Bindung [brauchen].“

Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin und Winston Churchill erklärten 1945: „Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus zu vernichten.“ Sie warnten wiederholt vor dem „Wiederaufleben des deutschen Militarismus“. Das war ein Problem, das weiter zurückging als der Nationalsozialismus. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Deutschland ein höchst militarisierter Staat. Die Armee spielte eine zentrale Rolle in der Gesellschaft.

Dieses Problem sollte eigentlich für alle Zeit behoben worden sein. Doch wird das deutsche Militär nun erneut eine große Rolle in der Welt und in der deutschen Gesellschaft spielen. Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass mittlerweile ausreichend Zeit vergangen ist und dass es keinen Grund zur Sorge gibt.

Nach dem Ersten Weltkrieg landete Deutschland in einer speziellen Kategorie. Obwohl die USA West-Deutschland nur wenige Jahre nach dem Krieg darin unterstützte, sich wieder zu bewaffnen, erforderte das Vermächtnis dieser Nation, die zwei Weltkriege entzündet und ganze Länder verwüstet hatte, dass ihr bestimmte Grenzen auferlegt würden.

Diese Grenzen sind nun abgeschafft worden. Vor zwei Jahren hatte Bundespräsident Joachim Gauck erklärt: „Es gab für die Nachkriegsgenerationen gute Gründe, misstrauisch zu sein – gegenüber der deutschen Staatlichkeit wie gegenüber der deutschen Gesellschaft. Aber die Zeit dieses ganz grundsätzlichen Misstrauens, sie ist vorüber.”

Das Weißbuch 2016 macht zudem deutlich, dass Einschränkungen der Vergangenheit angehören sollen. „Gleichzeitig jedoch veränderte sich mit der Wiedererlangung der vollen nationalen Souveränität die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt“, heißt es. „Es wurde deutlich, dass Deutschland die gleichen Rechte, Pflichten sowie Verantwortung im internationalen System zukommen wie anderen Staaten.“

Es entsteht ein neues Deutschland – ein Deutschland, das bereit ist, zu führen, bereit, seine Truppen auf der ganzen Welt einzusetzen. Ein Deutschland, das zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg bereit ist, auf seine Streitkräfte stolz zu sein und ihnen „eine emotionale Bindung“ zu vermitteln, damit sie hinauszögen und für das Vaterland kämpften.

Das ist Neuland für Nachkriegs-Deutschland.